Bevor sich etwas in Bewegung setzt, das Innehalten, der Moment des Stillstandes: das nackte Papier, die leere Wand. Wie setzt nun Christiane Schlosser z. B. diese Wand in Bewegung – und vor allem, wie macht sie aus dieser Wand ein Bild, in unserem Fall eine „Naturstudie“? Auf den ersten Blick sehen wir ein endloses Gewebe mit zahllosen Wandlungen des Musters. In einer von keiner Schattierung gebrochenen Farbe fließen die Linien über die Wand, Wand und Bild gehen ineinander über, nahtlos, unterschiedslos, bis nach längerem Schauen die Wand nicht mehr Wand ist, sondern nur noch Bild und dieses Bild irgendwann auch den ganzen Raum bestimmt.
Wenn sich aber der Raum verändert, verschiebt sich auch der Maßstab, kommt etwas in Bewegung: Was gerade noch gemalte Schleifen waren, fixiert auf eine Wand, werden jetzt Bänder, die aus sich heraus Energie erzeugen, sich gegenseitig animieren, bis sie zu einem bewegten Ganzen werden, das sich selbst immer wieder neu entzündet: Die Wand als Generator. So schult die Künstlerin die Beweglichkeit unseres Blicks.
Wir brauchen sie, diese Beweglichkeit vielleicht noch mehr bei den kleinen Zeichnungen, wenn wir den einzelnen filigranen Strichfolgen des Bleistifts nachspüren, um sie dann als Ganzes zusammensetzen zu können.
Diese kleinen Arbeiten, als einzelne und in ihrer Gesamtheit, schärfen die Aufmerksamkeit für alles Sichtbare, für die Nuance, die minimale Variation. Je unmerklicher die Veränderung, desto genauer sieht man hin, eine lustvolle Anleitung, auf Differenzen zu achten.
Was wir auf einer Zeichnung sehen, wirkt zunächst anschauungsgleich. Christiane Schlossers Formsystem, ihre Spurengebilde folgen dabei eher einer Bewegung in die Weite als in die Tiefe. Nie aber sind sie richtungslos, trotz ihrer Unmittelbarkeit reflektiert. So mündet die Dynamik des Bildgeschehens ein in eine eher ruhige Makrostruktur. Jetzt sehen wir die Striche, die Linien als Spuren einer Kraft, die zunächst ungerichtet erscheinen mag, zum Schluss aber eine perfekte Erscheinung ergibt. Ein solches Vorgehen ist nicht ohne Risiko, trotz aller zeichnerischen Potenz, denn die Künstlerin kann das Endergebnis nicht unbedingt vorhersehen. Dieses Risiko geht sie gerne ein, es ist Teil ihrer Lust an der Kunst. Das Besondere dieser Kunst und die Quelle des Reizes liegt dabei in einer scheinbaren Diskrepanz: Mit einem Minimum an Aufwand – ein Blatt, ein Stift – ein Maximum an Betrachtungslust, an Bewegungslust zu evozieren. Und wenn sich dann das bewegt unruhige Einzelzeichen in einem fast ruhigen Insgesamt auflöst und zusammenschließt, dann ist das ganze Bild da: Das Auge hat seinen Pol gefunden.
Herwig Graef
in Christiane Schlosser Zeichnungen Balmoral 2007