Christiane Schlosser Zeichnungen (Hokkaido)

Projektraum Alte Feuerwache 6.2.2014

Eröffnungrede / Manuskript

Dr. Birgit Möckel

Es freut mich sehr, einmal mehr in diesen so reduzierten wie umfassenden Kosmos der Zeichnungen von Christiane Schosser eintauchen zu dürfen - um einmal mehr zu staunen über den Reichtum dieser linearen „Erfindungen“, die einen mitnehmen in ihre eigene Welt, die die Künstlerin mit größter Selbstverständlichkeit und Kontinuität in immer neuen Rhythmen und Farbklängen erschließt.

„Hokkaido“ ist das neueste Werk von Christiane Schlosser. Es besteht aus 120 Zeichnungen, zu drei Blöcken zusammengeführt, die neben der offensichtlichen Entscheidung, mit der Raumarchitektur und dem Baumaterial aus gebrannten Ziegelsteinen zu korrespondieren, ganz beiläufig auch 120 Mal eine Entscheidung pro Zeile mit sich führen, die wir en passant erleben. Diese kleinen Pausen im Fluss des Zeichnens leuchten hell aus dem Grund und bestimmen gemeinsam mit dem Changieren der leuchtend orangeroten Farbverläufe den Rhythmus und Klang dieser Papierarbeit. Mit dem im Titel hinzugefügten Verweis auf den allseits bekannten Kürbis, wird der intensive Terrakotta-Ton einmal mehr geerdet und gewinnt an sinnlicher Substanz, die sich mit dem Gedanken an diese pralle Frucht und ihrer harten (essbaren) Schale wohl bei den meisten hier Anwesenden einstellen wird. Und nicht zuletzt mag der rhythmische Klang des Wortes die Entscheidung beflügelt haben, der Arbeit gerade diesen Farbton gleichsam einzuverleiben. Eine Farbe, die mit Blick auf ein anderes Gemüse im Übrigen auch an Vorläufer aus den 90er Jahren erinnert, als die Künstlerin - damals aus Berlin in die ländliche Umgebung der Pfalz gezogen - das Potenzial der Natur und die dort bewirtschafteten Felder als umfassende, so wandelbare wie stete Strukturen entdeckt. „Karotten“ mit ihrer spitz zulaufenden Form sind damals „richtungsweisende Farbträger“, die sich gestiftet oder besser noch in Viertelkreise geschnitten zu natürlichen Modulen zusammen führen lassen, die im all over auf der Leinwand gleichsam schwerelos ihre eigene Ordnung finden und im Miteinander zu nie gesehenen Zwischenräumen und Überschneidungen führen, denen Christiane Schlosser malend und zeichnend auf die Spur kommt, um daraus Chiffren abzuleiten und zu entwickeln, die sich auf formaler Ebene weit vom Gegenstand und der Natur lösen – und mit diesem fortdauernden Oszillieren zwischen abstrahierter und abstrakter Struktur Leben und Denken als umfassendes Gefüge vorstellen.

In diesen ausdauernden Studien liegt nicht zuletzt auch eine Wurzel jener Werke, die wir heute vor uns sehen. Spürbar ist auch in diesen Arbeiten jener größtmögliche Freiraum, die jeder Form, jedem Verlauf einer Linie ihre eigene Ordnung, ihren eigenen Rhythmus einschreibt, um diesen im nächsten Blatt in feinsten Nuancen neu zu setzen, um erst am Ende des prozesshaften Zeichnens einem Gedanken und der diesen ordnenden Entscheidung ihren eigenen Raum zu geben, ihn gleichsam einzuschreiben und – nicht zuletzt - damit den nächsten Gedanken anzustoßen, der sich mit der nächsten Linie, dem nächsten Werk und seinen Entscheidungen für Unterbrechungen, Pausen, Blattgröße, Blattstruktur, Farbe, Pinsel, Stift - um nur einige der weiteren Entscheidungen zu nennen - materialisiert. Nicht zu vergessen, das Papierformat. Gleich ob groß oder klein: jedwede horizontale Linie im Querformat löst die Anmutung von Landschaft aus, während das Hochformat Schreiben assoziieren lässt. Was zuerst ? Das Sehen oder das Denken? Erst mit dem fertigen Werk werden Idee und Vorstellung eins. Alles andere ist ganz einfach: „Ich beginne an der linken oberen Ecke und ende an der rechten, unteren, wie beim Schreiben“, sagt die Künstlerin, und fügt hinzu: „Die Gleichwertigkeit von oben, unten, hinten, rechts und links auf der Fläche ist für mich sinnbildlich für Leben und Denken“ – und öffnet damit gleichsam im Nachklang einen unendlichen Kosmos an Möglichkeiten: wie im Leben: vom Anfang bis zum Ende. Allein diese Richtung ist vorgegeben. Alles andere entwickelt sich auf jedem Blatt neu. Ob „linksrum / rechtsrum“ oder umgekehrt, ob mit „einer“, „zwei“ oder „unzähligen Entscheidungen pro Zeile“: konsequent wird jede neue Idee bis zur rechten unteren Ecke fortgeführt. Erst dann ist greifbar, was als Idee am Anfang stand. Erst dann zeigt sich die Poesie, die Sprödigkeit, Zartheit, Lebendigkeit und Kraft, die einem Gedanken innewohnt, der einen nicht mehr los lässt, bis man ihn zu Ende gedacht und gezeichnet hat. Zeichnen ist Denken. Direkt, kompromisslos führt die Idee die Hand und setzt den Strich, formuliert die Linie: seismographisch, energetisch, locker, präzise, ausdauernd - über ein kleines Blatt bis hin zu Formaten von 2 Meter Breite – ohne oder mit Unterbrechungen. Jede Lücke ist eine Entscheidung. Einmal pro Zeile, zweimal pro Zeile? In welchem Abständen? Wann? Jedes lineare System führt zu neuen Anknüpfungspunkten und neuen Ansichten, zu Miteinander von Linie und Fläche, von Davor und Dahinter. Zwischen jeder bewegten Spur entwickeln sich Zwischenräume. Jede Unterbrechung der Linie führt den Blick auf den Grund und zurück auf die farbige Tusche oder feine Graphitspur, als ausdauernde Fährte: Zeile um Zeile, Strich um Strich. Seien es horizontale, kreisförmige oder gittergleiche Lineaturen und Kürzel: immer öffnen sie Raum, wahren entschieden Freiräume und lassen der Linie auch in einem vermeintlich strengen Raster „ihren Lauf“, insbesondere an „Kreuzungen“ oder gedanklichen „Schnittstellen“ einer lebendigen Netzstruktur.

Wir folgen den Zeichen, dechiffrieren die Linien, ergänzen, suchen „das System“ dieser Strukturen zu ergründen. Jedwede Spur entpuppt sich dabei als wiederkehrende Spurensuche oder Spurensicherung von Zeit und Raum und offenbart sich als Wechsel zwischen Nähe und Ferne, Mikro- und Makrokosmos. Mit kompromissloser Konzentration und Ausdauer nimmt jede einmal gefasste Idee Gestalt an: langsam und stetig wachsend, bis sie - wie gesagt - an der unteren rechten Ecke angekommen ist. Mit der ihr eigenen Ordnung, dem ihr eigenen Rhythmus und den damit einhergehenden Entscheidungen, führen jene Linien nicht zuletzt in Denkräume – gehalten von so poetischen wie filigranen Strukturen, deren Stärke die Offenheit ist, mit der sie der Welt ihr eigenes Ordnungssystem entgegensetzen, parallel der Natur als immerwährender Kreislauf mit ganz eigenem Rhythmus.