Malerei als Meditation – Bilder und Zeichnungen von Christiane Schlosser

Es scheint auch heute noch Künstler zu geben, die ihr Handwerk mit geradezu köstlicher Hingabe und Bedingungslosigkeit betreiben. Dass die 1960 im hessischen Viernheim geborene Christiane Schlosser ausgerechnet bei Georg Baselitz studiert hat, jenem Malerstar, dem der Pinsel so flott über die Leinwand rutscht, dass er seine Bilder kopfüber hängen muss, um sie bedeutungsvoll erscheinen zu lassen – dass sie bei dem studiert hat, ist schon erstaunlich. Denn Christiane Schlosser übt Malerei aus als einen sich ständig erneuernden Akt radikaler Konzentration und Klarheit; man kann sich nicht vorstellen, dass sie jemals eine Farbe nur so hingewischt oder eine Bewegung mit dem Pinsel in halber Bewusstlosigkeit vollzogen hätte. Sie scheint im Gegenteil ihre Lebensenergien der Erforschung der Farben verschrieben zu haben, und je schonungsloser und einfacher ihre Arbeitsmethoden anmuten, desto lebendiger strahlen ihre Bilder in den Raum; als ginge ihre Person völlig in ihnen auf.

Christiane Schlosser wurde in den neunziger Jahren bekannt durch Pinguine. Es waren bezaubernde und zugleich kühle Bilder, bei denen die schwarzweißen Vögel lose oder in abstrakten Reihungen über die Leinwände gestreut schienen, und auch Vögel im Flug gaben lange ein Thema ab.

Die Mannheimer Galerie Peter Zimmermann zeigte 2005 und 2009 noch einige Beispiele solcher Bilder, bei denen der Betrachter einen Blick in den von Vogelschwärmen bedeckten Himmel assoziiert. Wer genauer hinsieht, erkennt freilich, dass schon damals Vögel nicht abbildlich gemeint sind, sondern nur als feine, geistreiche Pointe in einer Malerei auftauchen, die ganz andere Ziele hat. Die winzigen Flattertiere sind nämlich die sichtbaren Restbestände von Malschichten, die durch andere Farben überdeckt wurden – es sind stehen gebliebene kleine Flecken einer Farbe, die als Kontrast unter der deckenden obersten Schicht liegt.

Aus diesem einfachen Vorgang, zwei Kontrastfarben so übereinander zu legen, dass die untere noch stellenweise hervorlugt, machte Christiane Schlosser eine konsequente Methode zur Erkundung der Sprache von Farben und der Wahrnehmungsfähigkeit ihrer Betrachter. Heute deckt sie die untere Farbschicht nicht mehr so zu, dass jene federleichten, fliegenden Streuflecken stehen bleiben, sondern sie arbeitet in horizontalen Zeilen. Versuchen Sie doch mal selber, eine gerade Linie mit freier Hand über eine längere Fläche zu ziehen; irgendwann müssen Sie absetzen, vielleicht mal tief einatmen, das Handgelenk schütteln und den Stift oder Pinsel wieder ansetzen. Dabei entsteht eine Lücke, und die nutzt Christiane Schlosser systematisch für die Rhythmik ihrer Bilder.

Das Bild „zwischendurch orange“ von 2002 beispielsweise. Orange wurde hier nicht etwa in rhythmischen Tupfen auf grauen Grund gesetzt, sondern Orange ist im Gegenteil die Farbe der tieferliegenden Malschicht, die von links oben nach rechts unten Zeile für Zeile zugedeckt wird mit Grau, aber so, dass die Zeilen als solche erkennbar bleiben. In jeder Zeile setzte Christiane Schlosser den Pinsel mehrmals ab, ließ einen kleinen Zwischenraum und zog das Grau wieder weiter. Wenn so ein Bild zwanzig, dreißig oder mehr Zeilen hat und die orangefarbenen Zwischenräume nicht alle untereinander, sondern versetzt liegen, hat der Betrachter Mühe, keiner Täuschung zu erliegen: Jeder glaubt zunächst an aufgesetzte Orangetupfen. Erst der Blick aus der Nähe zeigt, dass Orange wie mit kleinen Düsen durch die graue Malschicht durchbricht und dem Bild gerade durch diese Energie sein Vibrieren und Pulsieren verleiht. Dem Betrachter flimmert es nur so vor Augen – das Bild ist 1,50 Meter hoch und 2,30 Meter lang!

Das Prinzip funktioniert auch mit schmalen schwarzen Balken auf Weiß, die akkurat mit äußerster Disziplin gezogen sind („zwischen durch“ von 2003 mit den gleichen Maßen), es funktioniert mit dem Umspringeffekt der Komplementärfarben Grün auf rotem Grund, mit einem Fest von Rot auf Dunkelblau.... Mitunter legt die Malerin vorher fest, wie viele Lücken sie pro Zeile der Untergrundfarbe lassen will: „orange mit einer Entscheidung pro Zeile“ von 2004 enthält auf einer Malfläche von 35 cm Höhe nicht weniger als 67 Zeilen eng gezogener Linien in Orange, unter denen der weiße Grund hervorblitzt. Die Länge der Malfläche ist hier 70 cm; bei Zeilen, in denen die Aussparungen in der Nähe der Seitenkanten liegen, muss die Malerin allein physisch höchste Kontrolle über die Handbewegung behalten, um die Zeilenlänge mit dem Orangepinsel akkurat durchzuziehen. Das Ergebnis: diese eine Mal hat sie sich ein klitzekleines Bisschen geirrt, was kein Wunder ist, denn auch ihr selber flirren die kleinen weißen Blitze aus dem Untergrund vor den Augen. In Zeile 22 hat sie, völlig versunken in die Anstrengung des Pinselzugs, die Lücke vergessen...

Mittlerweile greift sie in ihrem System immer weiter aus. 2004 entstand auf 1,25 Meter Länge „Grünes mit schrägen Entscheidungen“, ein Bild, das von Weitem wie tanzende Staubfädchen auf einer Wiese aussieht. Aus der Nähe zeigt sich, dass die helle Grundfarbe der Fädchen mit Grün zugedeckt wurde bis auf eben diese schmalen, kurzen Linien (!), die noch dazu alle in verschiedenen Richtungen schräg stehen. Um so etwas zu malen, braucht man mit Augen, Hand und Hirn perfekte Selbstkontrolle; an einem Tag, an dem man mal schlecht drauf ist, sollte man lieber spazieren gehen, statt ins Atelier. Einen ganz anderen Arbeitsrhythmus probierte Christiane Schlosser dagegen mit „Dunkelgrün auf Rot“ aus (2004, Hochformat 2 Meter x 1,80 Meter). Da zog sie die Zeilen der deckenden Farbschicht nicht horizontal wie beim Schreiben, sondern vertikal von oben nach unten. So unpersönlich und handschriftslos die Malerei Christiane Schlossers auf den ersten Blick anmutet, so sehr tragen doch feinste Unregelmäßigkeiten und die mit dem Nahblick erfassbaren Pinselbewegungen zur lebendigen Aussage ihrer Bilder bei. Kein Wunder also, dass das vertikal angelegte Bild die Vielzahl von oben nach unten gezogener Grünbahnen erkennen lässt – und von den schmalen, natürlicherweise quer liegenden Rotstreifen, die das Grün frei ließ, entscheidend geprägt wird.

Aber Christiane Schlosser kann es noch besser. Natürlich zeichnet sie auch, Zeichnen ist für sie offenbar Malerei mit Bleistift und Papier. Auch mit dem Bleistift lassen sich ja Linien ziehen – aber was ist da mit den Lücken? Zwar lässt sich das Papierweiß auch mit dem Stift überzeugend und Lücken gebend zudecken, wie schöne Blätter von 2006 beweisen. Aber grundsätzlich malt der Stift Linien auf , statt gezielte Freiräume zu lassen, was die Künstlerin zu einer Umkehrung veranlasste: Bei diesen Blättern hebt sie den Stift nicht ab, sondern verdichtet im Gegenteil den Strich, wenn sie die Hand etwas ruhenlässt. Ein solches Blatt „eben“ im kleinen Format 17,4 x 24,8 cm gibt es bereits 2001. Bei Zimmermann war 2009 eine atemberaubende Arbeit von 2008 zu sehen – 1,30 Meter auf 2 Meter, bedeckt von eng gezogenen horizontalen Bleistiftlinien, Zeile für Zeile zwei Meter lang ohne abzusetzen, nur mit Strichverdichtungen als Notwendigkeit gegen die Ermüdung der Hand und als atmender, pulsierender Rhythmus auf dem Papier. Das Flirren von Linien und ihren rhythmischen Verdichtungen erinnert an naturhafte, kosmische Phänomene wie zitternde Reflexe in der Luft oder kleine Wellen auf einer windgekräuselten Wasserfläche. Aber eine Strafarbeit ist ein Zuckerschlecken gegen solche Herausforderungen: hier wird Kunst zur Meditation für den Ausübenden, zur partiellen psyhophysischen Selbstaufgabe.

Zu den Zeichnungen gehören aber noch völlig andere, nicht minder Augen verwirrende Schöpfungen. „Naturstudien“ nennt Christiane Schlosser Blätter, auf denen eine einzige, pflanzenartige Ranke sich so übers Papier schlängelt, dass es völlig von Kurven und Schlingen bedeckt ist. Anfang und Ende des Liniengewirrs wird man vergeblich suchen,es ist, als sei dieses feine Gestrüpp aus sich selbst heraus gewachsen. Im Jahr 2006 hatte die Malerin ein Stipendium im rheinland-pfälzischen Künstlerhaus Schloss Balmoral in Bad Ems – das im Sommer landschaftlich reizvolle, aber ansonsten recht ereignislose Nest scheint ihre spartanische Selbstdisziplin noch verstärkt zu haben. Jedenfalls hinterließ sie (unter anderem) im Schloss eine Wandzeichnung, für deren Beschreibung Wörter nicht mehr ausreichen: Vom Boden bis zur Decke, auf einer Fläche von 16 Quadratmetern, zieht sich als „Naturstudie“ ein anfangs- und endloses blaues Schlinggewächs, in dem der Blick sich heillos verliert. Unerfindlich, wie Christiane Schlosser diese Arbeit gefertigt, wie sie ihr standgehalten hat, aber eine ähnliche Wandzeichnung realisierte sie bereits in 2003 Berlin: 3,50 mal 6,50 Meter!

So verwirrend ihre „Naturstudien“, so klar und systematisch ein anderer Zyklus, den sie ebenfalls als Wandinstallation auf Schloss Balmoral fertigte: Die 57 „Roten Blätter“ gehören zum Umkreis des Themas „ermessen“, bei dem sich aus vertikalen Linien Stufe für Stufe Diagonalen abspalten und schließlich die Malfläche beherrschen. Bei den 57 Blättern aus Bad Ems entsteht dabei der Eindruck einer zunehmenden fiktiven Ausschnittsvergrößerung – aus den vielen engen Parallellinien bleiben auf den letzten Blättern nur noch wenige, sehr schräg gegeneinander laufende übrig. Man muss wohl nicht betonen, dass auch diese Linien nicht in Weiß über eine rote Fläche gezogen wurden, sondern dass die rote Fläche das darunter liegende Weiß bis auf eben solche Linien zudeckt.

Bei allen Arbeiten Christiane Schlossers ist der sinnliche Eindruck für den Betrachter überwältigend. Sie erkundet malend nicht zuletzt das Verhalten von Farben, die einander in leuchtenden Kontrasten verstärken, wobei die untere Malschicht jedes Mal wie unter Druck durch die kleinen Öffnungen der deckenden Kontrastfarbe hervorbricht. Christiane Schlossers Malerei ist eine Balance aus Leidenschaft und deren Zähmung, aus Erkenntnissucht und atemlosen Vorwärtsdrängen – und eine Herausforderung für den Betrachter.

Christel Heybrock
aus dem Blog kunstundkosmos

Der Text bezieht sich auf das Erscheinen eines Katalogs zur Ausstellung in der Galerie Peter Zimmermann, Mannheim 2005